Ich heiße nicht Ascott und sehe es nicht ganz so schwarz, aber kritisch bin ich schon.
Grundsätzlich bin ich einem solchen Produkt nicht abgeneigt. Dabei beziehe ich mich nicht auf die von Google empfohlene Nutzungsweise, sondern prinzipiell auf das Gerät und die Möglichkeiten. Beruflich arbeite ich im Labor und befasse mich dabei mit Dingen, die nicht immer so funktionieren wie sie der Theorie nach sollten. Auf dem Weg zum Ziel muss man daher viele Notizen machen, alles sehr genau aufschreiben, unter Umständen sogar Fotos machen. So eine Brille würde in manchen Situationen das Arbeiten deutlich erleichtern. Man könnte zB einen ganzen Arbeitsprozess aufnehmen und danach von anderen analysieren lassen. Auf diese Weise stelle ich mir die Fehleranalyse deutlich einfacher vor, als sich von jedem erzählen zu lassen, was wie gemacht wurde anhand von Notizen, die leider nicht immer zu 100% vollständig sind, trotz gewissenhaftem Arbeiten. Diese (durchaus entschuldbare) Lücke könnte man damit schließen. Man könnte auch eine Webcam aufstellen, aber dann sieht man eben nur aus einem bestimmten Winkel was passiert. Mit der Brille könnte man das alles exakt so aufzeichnen, wie man es selbst gesehen hat und damit sieht man auch alle essentiellen Arbeitsbereiche.
Privat mache ich sehr gern Aufnahmen (Foto/Film). Eine GoPro wird die nächste Anschaffung sein. Aber eine Brille realisiert dieses Konzept einfach deutlich besser. Ich denke dazu muss man nicht viel schreiben, dass kann man sich durchaus vorstellen.
Jetzt komme ich zu Dingen die mMn nice-to-have sind, auf die ich aber auch verzichten könnte. Zum einen wäre da Augmented Reality. Es ist schon nicht übel durch die Stadt zu laufen und auf gewisse Geschäfte hingewiesen zu werden. Oder wenn mans grad sehr eilig hat und vergessen hat, wie man nochmal irgendwo hin kommt. Oder vllt muss man auf einmal dringend zum nächsten Arzt, weiß aber nicht wo einer ist. Oder ins nächste Porno-Kino. Jeder hat da individuelle Bedrüfnisse
In diesen Fällen wäre die Brille mit einer solchen Unterstützung durchaus hilfreich. Andererseits nimmt das auch irgendwie den Reiz, eine Stadt zu entdecken. Kann man natürlich einfach die Brille wegpacken. Aber ich glaube, dass man dann doch dazu neigt, sie trotzdem zu benutzen. Manchmal will man solche Informationen vllt auch gar nicht angeboten bekommen. Inwiefern das einstellbar ist, bleibt derzeit noch offen.
Direkter Zugriff aufs Netz und damit verbundene Optionen, wie zB Buchen von Tickets, das Telefonat beim Schlendern durch die Stadt, Zusenden von aktuellen Standorten etc. - das könnten andere Geräte mit entsprechenden Apps auch leisten. Eventuell lässt sich das auch individueller gestalten. Mit Glass - scheint mir - gehören solche Dinge zum Gesamtpaket. Auf lange Sicht stelle ich mir das ermüdend vor, auch weil ja alles direkt vor die Augen projiziert wird.
Ein schöner Aspekt, der auch in den Vidoes dargestellt wird, ist die Live-Übertragung. Man kann anderen direkt zeigen was man selbst sieht. Das finde ich ziemlich geil. Andererseits sorgt das wieder für eine gewisse Distanz. Man muss ja nicht mehr mitkommen oder jmd mitnehmen. Man kann alles über die Cloud versenden. Diese ganzen Systeme werben ja immer, dass man damit Menschen, die weit entfernt sind, näher zu sich heran holen kann. Ich mache derzeit die Erfahrung, dass diese ganzen sozialen Dienste im Gegenzug Menschen, die ganz nah sind, von einem wegführen.
Bei Smartphones sehe ich, wenn die andere Person sich lieber dem Internet widmet, als mir zuzuhören. Wie ist das dann bei den Brillen? Ich bin nicht jmd, der das direkt als respektlos bezeichnen würde, aber ich habe oft den Eindruck, dass persönliche Gespräche mit manchen Menschen belanglos werden, da man mittlerweile 50% der Zeit den Leuten dabei zu sieht, wie sie in virtuellen Welten mit anderen Menschen kommunizieren. Ich denke nicht, dass das aus Langeweile passiert, sondern weil man einfach mit mehreren gleichzeitig kommunizieren möchte, weil viele Menschen wichtig sind. Das ist ok. Aber wenn dadurch die Qualität abnimmt, kann man auch darauf verzichten. Bei manchen Zeitgenossen habe ich das Gefühl, dass es darum geht, Bekanntschaften abzuhaken auf einer Liste. Je mehr Leute man an einem Abend erreicht (persönlich und virtuell) desto zufriedener ist man bzgl dieses Ziels. Dass dabei viel Gesprächsqualität verloren geht, stellt man erst fest, wenn man sich dann verabschiedet. Mit Glass sehe ich da eine Verstärkung dieses Effekts.
Insofern ist das auch nice-to-have und sicherlich auch schön, über Distanz kommunizieren zu können. Aber früher ging es auch ohne diese Option ganz gut. Und ich frage mich immer öfter, inwiefern diese Bequemlichkeit am Ende nicht eine Gefahr für unsere sozialen Strukturen birgt. Am Anfang war es nicht so schlimm, aber wie schon andernorts hier erwähnt, gibt es schon die Pärchen, die sich gegenüber sitzen, aber sich anschweigen, weil jeder grade virtuell mit anderen Menschen kommuniziert. Vllt muss man soziale Beziehungen auch neu definieren bzw kommen vllt neue Beziehungsformen dazu. Wer weiß. Für mich ist es (noch) etwas befremdlich.
Kommen wir zu meinen Bedenken, sofern das jmd interessiert
Es sollte ja deutlich geworden sein, dass ich generell offen bin, was neue Technologien angeht. Trotzdem sehe ich auch Gefahren, grade im Bereich Datenschutz. Die bisherigen Argumentationen aus technischer Sicht sind völlig ok. Ich denke man kann derzeit noch sagen, dass es wirklich aufwändig sein wird, alle Inhalte die von Glass erfasst werden, entsprechend auszuwerten und zu nutzen. "Noch" ist dabei das Schlüsselwort. Denn erstmal fängt es ja mit der Technologie an. Sie wird eingeführt und eventuell findet sie Akzeptanz, wird weiterentwickelt. Irgendwann kann man alle Daten abspeichern und analysieren. Dann folgen weitere Schritte. Und die können sich auch so entwickeln, dass sie nicht zu 100% dem Willen der Nutzer entsprechen.
Meiner Meinung nach ist das am Bsp von Facebook gut erkennbar. Wer hätte denn gedacht, dass sich das alles so entwickelt, wie es jetzt derzeit ist? Wie oft wurden Dinge beschlossen, die den Nutzer noch mehr melken, damit das Unternehmen noch mehr Gewinn machen kann? Vllt wurde Facebook von Anfang an für diesen Zweck erfunden. Vllt ging es schon immer darum, durch persönliche Daten unglaublich viel Geld zu generieren. Wer weiß. Fakt ist, dass es schon früher Dienste gab, die auch ähnliche Strukturen bereit gestellt hatten, kostenlos und auch werbefinanziert, bei denen es aber auch darum ging, den Service zu gewährleisten + ein bisschen Gewinn. Facebook ist informationstechnisch betrachtet eine ganz andere Liga usw - dennoch hätte man eventuell einen anderen Weg einschlagen können. Es ist letzten Endes auch nicht relevant, was Facebook genau ist.
Relevant ist, dass am Ende immer der Entwickler oder der Bereitsteller entscheidet, was mit den Nutzerdaten passiert. Und da wird man die User nicht fragen. Definitiv nicht. Und die Frage ist dann: was passiert mit dem ganzen Material, dass man als Nutzer bereits irgendwo hochgeladen hat? Natürlich kann man ab Zeitpunkt X die Nutzung einstellen. Aber alles was davor gespeichert wurde, kann trotzdem verwendet werden bzw wer garantiert, dass das nicht trotzdem verwendet wird? Der Punkt "Was passiert eigentlich mit meinen Daten" ist also nicht transparent.
Weiter gehts eben mit dieser Wahrnehmung. Nur wenige Menschen haben ein Bewusstsein dafür entwickelt, was Konzerne alles wissen und was man dagegen tun kann. Bei Datenschutzdiskussionen kommt immer das Totschlagargument "Ich hab ja nichts zu verbergen". Im Grunde ist das wohl auch korrekt. Nur vergessen die Menschen, dass die Datenbestände nicht frei von Manipulation sind. Sie sind auch nicht sicher vor "Datendiebstahl". Aktuelle Beispiele zeigen doch, dass Unternehmen überhaupt nicht in der Lage sind, Nutzerdaten richtig zu sichern. Wie viel liegt da unverschlüsselt auf den Servern rum? Teilweise ist das richtig krass. Google kann das vllt besser. Aber wie lange? Es gibt keine Garantie für unbefugte Zugriffe und es gibt keine Garantie, dass Datensätze nicht manipuliert werden können. Wie gut kann man dann einem Unternehmen vertrauen, das zwar seine Kunden braucht, grundsätzlich aber erstmal Kohle machen will? Ich meine, man kann solch einem Konzern gar nicht vertrauen. Was wird im schlimmsten Fall passieren? Ein paar Leute klagen, der Rest zuckt mit den Schultern "Ich hab ja nichts zu verbergen".
Damit spreche ich mich nicht dagegen aus, an niemanden Daten zu übermitteln. Aber man sollte vllt insgesamt am System arbeiten und den Unternehmen auch klar machen, dass man eine gewisse Sicherheit haben möchte. Man sollte sich darüber Gedanken machen, inwiefern man gewisse Daten einfach so hergeben kann.
Nach den Kleinkriminellen kommen Regierungsorganisationen. Man könnte es vllt als Paranoia bezeichnen, allerdings sehe ich es als nicht zu unwahrscheinlich an, dass solche Datensätze genutzt werden können, um Menschen zu beobachten. Im schlimmsten Fall kann einem das bei der falschen politische Bewegung zum Verhängnis werden. Man stelle sich ein Szenario vor, in dem Radikale an die Macht kommen und anhand solcher Daten dann analysiert wird, wer homosexuell ist oder mit Homosexuellen Kontakt hatte - um dann gebrandmarkt zu werden. Wie könnte Google oder andere Konzerne sich gegen so etwas wehren? Die Politik entwickelt derzeit einen Kontrollwahn, um die Bürger zu schützen. Das Ziel ist es, Terroristen und anderen Schwer_ver_brech_ern (das wird ja tatsächlich zensiert) auf die Schliche zu kommen. Es wird nicht lange dauern, bis wir Systeme installieren, die eine nahtlose Überwachung ermöglichen werden. Dabei wird aber oft vergessen, dass eben solche Charaktere in der Regel solche Dienste meiden würden - sofern professionell. Also überwacht man die gesamte, vermutlich unschuldige Bevölkerung mit der Hoffnung, dass jmd zu blöd ist und in die Fall tappt?
Viele sagen, dass 1984 kein Potential besitzt und lediglich seinem dystopischen Charakter gerecht wird. Orwell hat aber nicht nur seiner Fantasie freien Lauf gelassen, sondern auch ein bisschen in der Geschichte gewühlt. Die Entwicklungen in seinem Werk orientieren sich zB an Vorgängen aus der NS-Zeit. Gezeigt hat sich, dass die rote Macht (auch in der DDR vor allem) zu einigem in der Lage gewesen ist (ebenso auch andere Mächte im Westen) während des Kalten Krieges. Es ist somit falsch die Technologie zu verteufeln. Aber sie bringt ein Potential mit, welches wiederum durch fehlgeleitetes, menschliches Verhalten eine ganz andere Situation schaffen kann, wie es eigentlich gedacht war.
Letzten Endes glaube ich daran, dass Glass noch mehr Glas einführen wird bzgl Privatsphäre und ihrem Schutz. Diverse Punkte wurden schon vor meinem Beitrag erwähnt. Das Potential ist da. Darauf zu vertrauen, dass es nicht passieren wird, ist mMn sehr naiv. Konzerne und Regierungen brauchen uns. Aber wir sind auch austauschbar. Denn man braucht uns nicht wegen unsere Individualität, wegen unserer Gedanken, unserer Gefühle oder persönlichen Erfahrungen oder Schicksale - sondern als arbeitende und kaufkräftige Masse, um ein System aufrecht zu erhalten. Dass wir zwischendrin ein Leben leben können nach unseren Vorstellungen, das ist ein netter Nebeneffekt und gut für uns. Aber dem System ist das egal, ob wir glücklich werden oder nicht. Die Frage die man sich also stellen muss: können wir selbst entscheiden, auf was wir uns einlassen und auf welche Weise wir uns darauf einlassen um uns dann frei entfalten zu können? Oder geben wir diese Entscheidung weiter an Konzerne und Regierungen, zucken mit den Schultern, weil wir nichts zu verbergen haben, und schauen was passiert?
Glass wird kommen - so oder so. Aber wie es weitergeht, dass können wir beeinflussen. Nicht indem wir diese oder jene Technologie verbieten, sondern indem wir uns kritisch damit auseinander setzen und uns überlegen, wie man potentielle Probleme so gut wie möglich von Anfang an vermeiden kann.
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