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Max Liebermann und Dieter Nuhr haben nicht viel gemeinsam. Der eine Maler, der andere Kabarettist, der eine Mitte des 19. Jahrhunderts geboren, der andere rund 100 Jahre später. Seit gestern jedoch existiert eine Verbindung zwischen beiden, die Mitten durch Luxemburg und Berlin führt. Denn treffender als mit den prägendsten Sätzen beider Männer kann man das, was sich seit 24 Stunden in der deutschen Hauptstadt abspielt, nicht beschreiben. Doch der Reihe nach.
Es war einmal...
Im Jahr 2006 meinte die EU in Form von Parlament, Rat und Kommission, die Telekommunikationsdaten sämtlicher EU-Bürger müssten nicht nur gesammelt, sondern auch für mindestens ein halbes Jahr gespeichert werden. Denn, so die Begründung, damit könne man im Nachhinein schwere Straftaten leichter aufklären und die Verantwortlichen Dingfest machen. Kritik an der Richtlinie 2006/24/EG ließ nicht lange auf sich warten, eine wirkliche Chance auf Kurskorrektur hatten die Gegner aber nicht.
Zwei Jahre später trat die Vorratsdatenspeicherung (VDS) dann in Deutschland in Kraft. Die Argumente von Seiten der Politik waren die gleichen wie zwei Jahre zuvor, Kritik wurde ignoriert. Die Quittung bekam die Politik zwei Jahre später in Form eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Dort kam man zu dem Schluss, dass das „Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG“ nicht mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar sei.
Für die Politik war dies angeblich eine große Überraschung. Das Urteil wurde aufs Schärfste kritisiert und regelrecht explodierende Kriminalitätsraten wurden beschworen. Doch Überraschung: Das Gericht teilte in vielen Punkten die Meinung der Kritiker und Mord und Totschlag blieben in den vergangenen vier Jahren aus. Doch die eifrigen Politiker in Berlin hielt das nicht ab, die Hardliner wollten nicht wahrhaben, dass die VDS nachweislich so gar keinen Effekt hatte und forderten deshalb ein überarbeitetes Gesetz.
Was in Berlin, aka Neuland, aber wohl nicht bemerkt wurde, waren Klagen in Irland und Österreich, die von den obersten Gerichten nach Luxemburg weitergeleitet wurden. Denn in beiden EU-Staaten war sich die Judikative nicht sicher, ob das Ungetüm 2006/24/EG überhaupt mit der Grundrechtecharta der Europäischen Union in Einklang stünde. Tage, Wochen und Monate vergingen, doch in Neuland wurde mit Hochdruck am Wunsch sogenannter Innen- und Rechtsexperten gearbeitet. Hätten sie doch bloß auf Dieter Nuhr gehört: „Wenn man keine Ahnung hat: Einfach mal Fresse halten“.
(K)ein überraschendes Urteil
Denn seit gestern Mittag wissen wir, dass nicht einfach nur ein, zwei, drei winzig kleine Details der EU-Richtlinie minimal mit Grundrechten nicht in Einklang zu bringen sind, sondern dass das Konstrukt in weiten Teilen gegen geltendes Recht verstößt. Das bedeutet im Umkehrschluss: Den jeweils nationalen Umsetzungen der EU-Richtlinie fehlt plötzlich die Rechtsgrundlage. Und zwar nicht nur in einem kleinen Punkt, sondern in Gänze.
Doch in Neuland will man das nicht wahrhaben, dort lebt man in einer ganz eigenen Welt. Anders kann man zumindest zwei noch ganz frische Äußerungen nicht erklären. So sprach Bundesjustizminister Heiko Maaß kurz nach der Urteilsverkündung in Luxemburg davon, dass es zwar keinen Grund mehr dafür gebe, „schnell einen Gesetzentwurf vorzulegen“, eine „tragfähige Lösung“ soll es aber dennoch geben. Und sein Kollege Thomas de Maizière, seines Zeichen Bundesinnenminister, sprach wenig später davon, dass Deutschland auch ohne EU-Richtlinie ein eigenes Gesetzt zum wahllosen Sammeln von Daten auf den Weg bringen könne. Denn schließlich habe der Europäische Gerichtshof die VDS ja nicht an sich für unzulässig erklärt, sondern nur gegen einige Rahmenbedingungen geurteilt.
Hält man sich jedoch noch einmal die Erklärung der Richter vor Augen, kann man nur an der Auffassungsgabe der beiden Politiker, die pikanterweise beide Juristen sind, zweifeln. Denn aus Luxemburg heißt es ganz klar, dass das Sammeln und Sichern der Daten ein „schwerwiegender Eingriff“ in die Grundrechte sei, der das Gefühl einer „ständigen Überwachung“ erzeuge und auf das „absolut Notwendige“ zu reduzieren sei.
Weiter wie bislang
Liebermanns „Ich kann nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte“ passt hier wunderbar, politisch korrekter müsste man von Geisterfahrern in Neuland sprechen. Denn keiner der beiden Bundesminister noch irgendein anderes Regierungsmitglied will mit so einem Urteil gerechnet haben - beinahe so, als ob man in den vergangenen Wochen und Monaten mit geschlossenen Augen und zugehaltenen Ohren durch die Welt gelaufen sei; ein Vergleich mit den drei Affen drängt sich regelrecht auf.
Denn das gestrige Urteil war in seinen Grundzügen spätestens seit Ende 2013 absehbar, auch wenn es in Summe über das Gutachten und somit die Empfehlung der Generalanwaltschaft hinausgeht. Und ganz nach dem Motto „Was stört es die Eiche, wenn sich die Sau an ihr reibt“ wird Kritik an der VDS an sich vom Tisch gefegt und tief in die Kiste der Stammtischparolen gegriffen. Zumindest CDU-Mann Wolfgang Bosbach, quasi der Archetyp des deutschen Hardliners und unbelehrbaren Politikers, hat damit nicht lange gewartet: „Wer jetzt sagt, für eine Neuregelung bestehe kein zeitlicher Druck und keine Notwendigkeit mehr, der vergisst, dass uns Tag für Tag elektronische Spuren zur Aufklärung von Straftaten verloren gehen“, so der Politiker gegenüber Spiegel Online. Auf gut Deutsch: Wer nicht für die VDS ist, ist Mittäter, mindestens aber Helfer.
Dabei übersehen Bosbach und Co. aber ein winziges Detail: In all den Jahren konnte nicht einmal zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass das Sammeln und Speichern der Verbindungsdaten wirklich bei der Auflösung oder Verhinderung einer schweren Straftat geholfen hat. Schon im Jahr 2010 führte dies zu einer medial leider viel zu kurz gekommenen Peinlichkeit, die Telepolis mit dem Titel „VDS - eine Kommission sucht einen Erfolg“ ehrte.
Ein Geisterfahrer? Hunderte!
Schon in der Diskussion rund um die Spähaktionen von NSA und GCHQ bekleckerte sich die Bundesregierung nicht mit Ruhm, das Verhältnis zu Briten und Engländern wurde als wichtiger als die Interessen des deutschen Volkes eingestuft. Und auch beim Themen Internet im Allgemeinen und Breitbandausbau im Speziellen glänzte man in Berlin nicht durch Wissen und Können - im Gegenteil. Mit Neuland haben die vermeintlichen Volksvertreter einen Begriff geprägt, der zutreffender nicht sein könnte. Dass sie wie Geisterfahrer gegen den Willen großer Bevölkerungsteile argumentieren und regieren, wird ignoriert. Im Zweifelsfall werden alle anderen als Falschfahrer bezeichnet, nur, damit man vom eigenen Kurs nicht abweichen muss.