„Wenn ich geglaubt habe, dass sich irgendwer um mich als Neuling besonders kümmern wird, habe ich mich getäuscht. Die alten Nationalspieler, die alle schon zig solche Treffen erlebt haben – Anreise, Einchecken ins Hotel, zwei, drei Trainingseinheiten, Reise zum Spielort, Länderspiel, Rückflug, Abreise zu den Klubs –, bleiben untereinander und machen sich den Aufenthalt so gemütlich wie möglich. Es wird viel gelacht. Ich halte mich mit Witzen zurück. Wir jungen Spieler – Hinkel, Hildebrand, Friedrich, Kurányi und ich – hocken beisammen, sind einfach da, sagen nicht viel, tun, was man uns sagt.“
Auch auf dem Fußball-Platz wird Lahm überrascht: „Das Training läuft erstaunlich locker ab.“ Er erklärt: „Wir laufen ein, zwei Runden um den Platz, um uns warm zu machen, machen ein bisschen Stretching, spielen Kreis, üben Flanken und Torschüsse und fangen nachher ein kleines Spiel an. Mir kommt das so vor, als würden ein paar Kumpels miteinander in die Ferien fahren, um Fußball zu spielen. Nach dem Training sagt keiner was. Die alten Spieler kümmern sich sowieso nicht um die Jungen, Mittelbau ist keiner vorhanden, und der Trainer findet offenbar, dass alles okay ist, wie es ist.
Wir spielen auswärts gegen Kroatien. Das Spiel findet in Split statt. Wir wissen nicht viel über den Gegner, außer über die Spieler, die wir aus der Bundesliga kennen. Es will aber auch niemand über den Gegner Bescheid wissen, und es gibt auch keine Besprechung, in der eine Taktik festgelegt würde. Die einzige Besprechung, an die ich mich erinnere, ist die, in der Rudi Völler die Mannschaftsaufstellung bekannt gibt. Ich stehe als linker Verteidiger in der Startelf.“
Lahm über die folgende Partie: „Hammer. Erstes Spiel, und gleich in der Startaufstellung.
Wir gewinnen 2:1, ich spiele eine anständige Partie, nach dem Spiel kommt der Bundestrainer zu mir, legt den Arm um meine Schulter und sagt: ‚Klasse, Philipp.’ Ich sage, was ich in diesen Tagen immer sage: ‚Danke, Trainer.’“
Und in dieser Form geht es unter Völler weiter. Lahm: „Noch immer sind die Treffen mit der Nationalelf die lockersten Tage meines Profidaseins. Die Entspanntheit, über die ich vor meinem ersten Spiel gegen Kroatien noch gestaunt habe, ist die Regel. Wir trainieren nichts Spezielles, außer vielleicht Flanken von der Seite in die Mitte, wo dann irgendwer unbedrängt den Ball annimmt und aufs Tor haut. Lustig, ja, und völlig unsystematisch.
Die Torhüter regen sich permanent darüber auf, wie der Ball links und rechts von ihnen einschlägt.
Pro Tag wird vielleicht eine Stunde trainiert, dann verziehen sich alle wieder auf ihre Zimmer. Ich glaube, dass damals viele Playstations geglüht haben. Es gibt keine taktischen Besprechungen. Es gibt keine Videoanalyse von kommenden Gegnern. Es gibt auch keine Videoaufzeichnungen eigener Spiele, anhand derer man die Spielweise der Mannschaft analysieren und verbessern könnte. Das Einzige, worüber wir reden, sind Fehler, die dem Bundestrainer aufgefallen waren. Da einigt man sich dann darauf, dass man sie in Zukunft nicht mehr machen will.“
Die Ära Völler endet mit dem Vorrunden-Aus bei der EM 2004. Ein 1:1 gegen Holland, ein 0:0 gegen Lettland, 1:2 gegen die Tschechische Republik – raus ohne Applaus. Völler zieht die Konsequenzen, wirft direkt nach dem Ausscheiden in Portugal sofort hin.
Lahm: „Aus der Sicht von heute klingt das wie eine andere Epoche von Fußball, und wahrscheinlich stimmt das auch. Ich weiß von keiner Nationalmannschaft des Jahres 2004 die sich anders, professioneller vorbereitet hätte als wir. Wie professionell die Arbeit mit den Nationalspielern überhaupt sein kann, erlebe ich sowieso erst nach dem Debakel bei der EM 2004 in Portugal.“
Völlers Nachfolger heißt Jürgen Klinsmann. Lahm: „Alles, was im Training angefasst wird, hat plötzlich Hand und Fuß.“ In erster Linie, weil Klinsis Assistent Jogi Löw, der heutige Bundestrainer, ist.
Lahm: „Jogi Löw erweist sich schon bei den ersten Trainingseinheiten als gewiefter Taktiker. Es ist interessant, was er über jede einzelne Position zu sagen weiß, vor allem für einen Spieler, dem bisher kein Trainer Anregungen gegeben hat, wie er die Position des linken Verteidigers vielleicht interpretieren könnte.“