Ich habe einen lustigen Lebenslauf.
2002 mit dem Abi fertig gewesen, durchweg gut, LK Englisch und Geschichte. Note 2.0. Damit war ich vor der Noteninflation noch 4. Bester von 70 im Jahrgang.
Danach Zivi und ein Magister-Studium der Geschichte, Nebenfach Humangeographie angefangen. Bis dahin war es stets so gewesen, dass sich die Anzahl der Absolventen und Pensionäre in Waage hielten. 2003 explodierten aber die Studentenzahlen in den Geisteswissenschaften. Statt 30 Immatrikulationen waren es allein an meiner Uni nun jedes Jahr 300. Woanders wird es ähnlcih ausgesehen haben.
Nach einem guten ersten Semester entschied ich mich zunächst anderthalb Jahre nach Norrath zu gehen und in Everquest II Raids zu leiten. Leider war der "beste Heiler auf dem Server Innovation" nichts, was sich im Lebenslauf sonderlich gut macht. Bis zum Vordiplom brauchte ich außerdem das Latinum. Ich hatte vorher ein Fernstudium angefangen, das wurde aber nicht anerkannt. Folglich musste ich noch drei Semester im Uni-Lateinkurs absitzen (wo ich im Halbschlaf mit 1,5 rauging, denn das Fernstudium war im Gegensatz zum Unikurs echt gut), bis ich endlich in die Zwischenprüfungen ablegen konnte.
Jetzt widmete ich mich erstmal den wichtigen Dingen. Meine Social Skills aufpolieren und mit Mitte 20 endlich mal was mit Frauen hinbekommen. Ich studierte intensiv PickUp und konnte nach einem Jahr erste Erfolge verbuchen, so dass sich der Aspekt meines Lebens auch auf einem guten Level bewegte. Richtig bescheiden ging es mir, als ich kein BAFÖG mehr bekam, die ersparnisse aufgebraucht waren und ich aus der Familienversicherung flog. Zum Glück fand ich in der Zeitarbeit beim HERKULES-Projekt der Bundeswehr PCs aufzubauen. Der Stundenlohn war bescheiden, aber mit den ganzen Zulagen war pro Woche immer so 700 EUR netto drin, was Ende der 00er Jahre als Student im Osten ein gutes Geld war. Auch konnte ich endlich daheim ausziehen.
Es trödelte mittlerweile der böse Brief vom Prüfungsamt ein, dass ich durch maximale Überschreitung der Studienzeit zum ersten Mal durch die Abschlussprüfung gefallen sei, in einem Jahr komme die zweite Verwarnung, nach anderthalb Jahren die dritte und letzte. Ich hatte noch keine einzige Prüfungsleistung des Hauptstudiums erbracht. Also bekniete ich alle Profs und fing an, einen Tag für Tag einen riesigen Turm an Belegarbeiten wegzutippern, am ende waren es an die 300 Seiten. Im Folgesemester konnte ich meine Magisterarbeit schreiben und die Examensprüfungen ablegen. Little did I know dass der Brief vom Prüfungsamt erst im folgenden Semester versendet wird, ich also schon 2x durchgefallen war und quasi auf sämtliche Examensprüfungen einen Versuch hatte. Ein Verkacken auch nur einer Prüfung hätte die Exmatrikulation zur Folge gehabt.
Im letzten semester hatte ich zudem die Zeitarbeit gekündigt (wäre auch gar nicht mehr drin gewesen) und nur noch eine Hiwi-Stelle an einem Forschungsinstitut inne gehabt. Dort lernte ich altdeutsche Handschriften zu lesen und mich durchs Archiv zu wühlen.
Da stand ich nun mit meinem 1,7 Abschluss in Geschichte und widmete mich dem Bewerbungsprozess. Schnell merkte ich, das wird nichts. Irgendein Volontariat in einem Museum am Arsch der Welt, 1.200 EUR brutto, 400 Bewerber und ohne Promotion keine Chance. Ausbildungsstelle zum gehobenen Archivdienst, formal für Abiturienten freigegeben als duales Bachelorstudium, 70 Bewerber in der näheren Auswahl, alles glücklose Master und Magister. Das Geilste war eine Stelle als Erbenermittler. Der wollte einen Magister oder Master in Geschichte, Latinum, Russisch-Grundkenntnisse, Archivkenntnisse und das Lesen alter Handschriften. Brachte ich alles mit. Geboten hat er mit 1.800 brutto und warnte mich vor der realen 55h-Woche ohne bezahlte Überstunden und Samstagsarbeit vor. Nach 160 Bewerbungen hatte ich nicht ein einziges fachnahes Vorstellungsgespräch.
Zum Glück hatte ich das vorausgesehen und eine Gesetzeslücke gefunden, so dass ich direkt im Anschluss an das erste Studium ein Zweitstudium Informatik für Geistes- und Sozialwissenschaftler beginnen und trotzdem weiter hartzen konnte.
Die Sachbearbeiterin im Jobcenter wollte mich auf eine Weiterbildung für Historiker schicken, die 9 Monate ging und den Steuerzahler 18.000 EUR gekostet hätte. Ich wollte lieber eine SAP-Entwicklerschulung. Sie bevorzugte ersteres. Ich argumentierte, dass laut Angaben des Bildungsträgers nur die Hälfte der Absolventen zwei Jahre nach Abschluss der Historikermaßnahme ihr Einkommen aus eigener Kraft beschreiten konnten und im Schnitt 1.300 EUR brutto verdienten. Sie genehmigte den SAP-Kurs. Das halbe Jahr war hart, weil ich dort offiziell von 8 bis 16:30 Uhr Anwesenheitspflicht hatte, aber weiter studieren wollte. Manchmal stahl ich mich heimlich davon, um in die Uni zu gehen, den rest erledigte ich im Selbststudium oder mit Übungen, die erst 17:30 Uhr begannen. Da ich mich parallel auch noch von meiner damaligen Freundin trennte und wir eine gemeinsame Wohnung auflösten war das alles in allem mal richtiger Sackgang.
Mit dem SAP-Schein in der Tasche bewarb ich mich und bekam auf drei Bewerbungen drei Zusagen. Eine Stelle in der Heimat bot mir 20h/Woche sozialversicherungspflichte Beschäftigung und 1.500 EUR brutto, Stellenbezeichnung "SAP-Software-Engineer" (also unstrukturiertes Code and Fix auf Zuruf). Nach einem halben Jahr ging ich auf Vollzeit hoch und durfte die Masterarbeit in der Arbeitszeit schreiben. Nach dem Abschluss gab es eine Gehaltserhöhung und ich war dann bei 42.000 brutto, was sich bis 2019 auf 50.000 brutto erhöhte.
Mit der Zeit wurde ich dort allerdings immer unzufriedener. Wir waren die Tochter der Stadtwerke und stets wurde uns erzählt, wie wichtig die IT sei und dass wir voll dazugehörten. Gehörten wir auch, nur bekamen die in der Konzernmutter tätigen den fetten Tarifvertrag der Energiewirtschaft und wir nicht. Ich konnte es nie einsehen, warum ein random Buchhalter 20% mehr verdient als der Informatiker, der das Ganze am Laufen hält. Ferner störte mich die immer weiter ausufernde Breite der Aufgaben. Erst hieß es ich solle die Buchhaltung betreuen und entwickeln. Dann uferte das immer weiter in die komplette Energiebranchenlösung aus. Dann kam Business Warehouse dazu. Dort gab es zu modellieren, zu entwickeln und zu administrieren und ein Betrachtungswesen zu organisieren. Schließlich kam ein SAP Business Objects oben drauf, das baute ich von 0 ab "Drücke setup.exe" komplett selbst auf. Danach folgten mehrere FrontEnd-Tools, am Ende sollte ich noch Javascript lernen und auf HANA umstellen und dort alles neu lernen und weiß der Geier. Gefühlt saß ich 60% meiner Zeit an irgendwelchen Rheinwerk-Büchern und musste ständig beim Urschleim anfangen, konnte aber in nichts gut werden, weil nach jedem kleinen Projektchen schon wieder der nächste komplett andere Kram anstand. Normalerweise wären die Aufgaben in ihrer Breite genug für drei bis vier Leute gewesen, die sich ordentlich spezialisieren. Grundsätzlich war alles extrem chaotisch organisiert.
Also bewarb ich mich weg. Abseits von SAP wollte mich gar niemand (weil nur SAP-Erfahrung und als Entwickler nicht gut genug), bei SAP-Stellen wollte mich jeder mit Kusshand, da gab es aber nicht so viel Auswahl. Hier in der Region gibt es kaum Firmen, die groß genug sind, SAP einzusetzen. Mittlerweile war ich aber familiär gebunden. Ich hatte schon eine stelle als Entwickler sicher, da meldete sich noch eine Monate alte Initiativbewerbung aus dem öffentlichen Dienst. Die suchten einen SAP-Admin. Ich war zwar Entwickler, die wollten mich aber dennoch.
Mein alter Arbeitgeber wollte mich aber nicht gehen lassen und bestand auf lustige 12 Monate Kündigungsfrist, so dass ich mich da erstmal mit Anwalt rausboxen musste. Seitdem bin ich im öffentlichen Dienst. Ich bin nun Admin, die Einarbeitung war sehr smooth, den Großteil des Wissens brachte ich schon mit, da ich das in der alten Firma alles nebenher auch noch erledigen durfte. Wir arbeiten zu 100% agil, die Prozesse laufen streng nach ITIL und sind super organisiert, ich habe 80% Homeoffice und mit Zulagen gibt es 65k für einen wesentlich entspannteren Job als in der alten Firma. Die beste Entscheidung meins Lebens.