In den letzten Jahrzehnten versucht die psychologische Forschung zu verstehen, auf welcher Grundlage - abgesehen von der stets unabdingbaren Ausbildung - geistige Hochleistung zustandekommt. Erfolgreich war in dieser Richtung vor allem eine Gruppe, die sich international als „Erlanger Schule der Informationspsychologie“ einen Namen gemacht hat. Prof. W. D. Oswald und Dr. Siegfried Lehrl (beide Erlangen), Prof. Helmar Frank (Paderborn) und andere stellten fest: Läßt man Versuchspersonen Karten sortieren, einsilbige Worte nachsprechen, Bilder oder Texte - auch am Computer oder in der Zeitung - erfassen, dann stellt sich heraus, daß ein kleiner Teil von Personen (etwa 5% der Bevölkerung) in der Lage ist, die doppelte Menge an Information pro Zeiteinheit aufzunehmen, im Gedächtnis zu speichern oder aus dem Gedächtnis wieder abzurufen, als der größte Teil der Bevölkerung. Etwa 30% der Bevölkerung erzielen mittlere Ergebnisse. Es stellte sich dabei heraus, daß die wissenschaftlich-technisch Hochbegabten bzw. Hochbefähigten mit den „schnellen Informationsverarbeitern“ der Erlanger Psychologen - deren Ergebnisse sich übrigens auch im EEG bestätigen lassen - identisch sind, d.h. die Ergebnisse dieser beiden Forschungsrichtungen fügen sich nahtlos aneinander. Wenn man den Testpersonen einfache Aufgaben von etwa gleicher Schwierigkeit stellt, dann lösen Mathematiker, Physiker, Diplom-Ingenieure und Bankdirektoren pro Zeiteinheit dreimal soviele Aufgaben wie Berufskraftfahrer (die extremen Verteilungsenden der Gruppen viermal soviele) [5] .
Auf ein allgemeingültiges Ergebnis muß aber besonders hingewiesen werden: Auch in Berufen mit niedrigem Durchschnitts-IQ, wie Kraftfahrer und Gespannführer, gibt es Einzelpersonen mit einem IQ über 130, jedoch keine Diplom-Ingenieure und Matthematiker mit einem IQ unter 100. Noch bleiben sie uns erspart. Um nicht mißverstanden zu werden, soll schon an dieser Stelle gesagt werden: Unsere Gesellschaft funktioniert gerade durch diese Hierarchie an Fähigkeiten, und dann, wenn die Intelligenteren ihren hohen IQ nicht als Privileg, sondern vor allem als soziale Verpflichtung auffassen.
1969 erhielt ich in der DDR als Doktorand den Auftrag, die Vorfahren und Verwandten von rund 1000 mathematisch Hochbegabten zu untersuchen, d.h. die Vorfahren und Verwandten der leistungsbesten Schüler der Jahre 1961-1970. Nachdem die DDR um diese Zeit im Hochleistungssport durch konsequente Begabungsauslese und -förderung zu einer Weltmacht aufgestiegen war, plante man die Übertragung dieser Erfahrung auf geistige Bereiche und einen „großen Sprung“ auch auf wissenschaftlich-technischem Gebiet. Auf diese Weise war auch die bis dahin geächtete Humangenetik kein Tabu mehr. Auch Studentenehen wurden in einmaliger Weise gefördert. Nach 1980 wurden in keinem Land der Erde relativ soviele Kinder von Hochschulstudentinnen geboren wie in der DDR.
Nach Durchsicht der wissenschaftlichen Literatur mußte ich 1970 feststellen, daß alle Autoren von der Auffassung ausgingen, daß Intelligenz von sehr vielen Genen mit kleiner Wirkung abhängt, eine entsprechende Ausbildung ebenfalls vorausgesetzt. Nachdem ich Daten von rund 25 000 Verwandten gesammelt hatte, kam ich jedoch zu einem anderen Schluß. Es gab Familien, die mir besonders zu denken gaben: In einer realen Familie waren z.B. von vier Brüdern einer hochbegabt, einer Maschinenbaumeister, einer Angestellter, beim vierten schrieben die Eltern: „Er fährt beim Bäcker das Brot“ (und hatte keine besonderen Leistungen in der Schule). Die Lieben und Sorge der Eltern hatte sicher allen Kindern gleichermaßen gegolten. Als genetische Hypothese bot sich nun sogar ein Hauptgen an, das nach den Mendelschen Gesetzen in einfacher Weise spaltet, denn bei der statistischen Untersuchung der Familien der Hochbegabten und der Auswertung der Daten über die rund 25 000 Blutsverwandten 1., 2. und 3. Grades und ihrer Ehepartner konnte folgendes festgestellt werden:
Die Hochbegabten (ihr mittlerer Test-IQ 130) und fast ausnahmslos alle ihre Verwandten 1. Grades (also Eltern, Kinder und Geschwister) sind entweder selbst hochbegabt oder gehören einer Berufs- und Leistungsgruppe mit mittlerer Qualifikation (mittlerer IQ 112) an, zu der rund 30% der Gesamtbevölkerung gehören. Heiratet ein hochbegabter Ehepartner einen ebenfalls hochbegabten Partner, dann sind mit fast 100%-Sicherheit die Kinder dieses Paares wiederum hochbegabt. Die Kinder dieser Ehepaare besuchen das Gymnasium und ausnahmslos die Fachrichtungen, in denen wissenschaftlich-technische Hochleistungen heute so gefragt sind. Heiratet jedoch ein Partner mittlerer Qualifikation (und dazu gehört die Mehrzahl der Geschwister der Hochbegabten) einen Partner mit ebenfalls mittlerer Qualifikation, dann sind nur 25% der Kinder aus diesen Ehen wiederum Hochbegabte, 50% der Kinder haben eine mittlere Qualifikation und 25% eine einfache Qualifikation (mittlerer IQ 94).
Im Archiv der „Deutschen Zentralstelle für Genealogie“ in Leipzig überdauerte die geheimgehaltene Kartei das Jahr 1990 und wurde 1994 dazu benutzt festzustellen, was aus den hochbegabten Jugendlichen der DDR, die inzwischen durchschnittlich um die 50 Jahre alt sind, und ihren Familien geworden ist. Tatsächlich üben heute 97% der männlichen und 90% der weiblichen Hochbegabten und heute Hochbefähigten Berufe aus, die zu der wissenschaftlichen-technischen Intelligenz zählen, die heute so sehr gefragt ist. Hunderte von ihnen sind Diplom-Mathematiker, Diplom-Physiker und Diplom-Ingenieure der verschiedensten Fachrichtungen, einige Chemiker und Biochemiker, ein Teil Gymnasiallehrer (insbesondere für Mathematik und Physik), mehrere gründeten ab 1990 Unternehmen und einige sind in weiteren hochqualifizierten Berufen und Stellungen tätig (so daß sich die Hochqualifizierten auf 97% summieren). Die Hälfte aller Probanden ist promoviert, etwa ein Viertel habilitiert, rund 100 sind Professoren und Dozenten, einer ist Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes, einer Oberbürgermeister einer der bedeutendsten deutschen Städte. - Der Anteil der beruflich Gescheiterten ist bei den wirklich Hochbegabten sehr, sehr gering. Man kann das in seinen Folgen auch auf diesen Nenner bringen: Es gibt etwa 5% Menschen, die erfinden Maschinen, es gibt 30% Menschen, die installieren und reparieren Maschinen, und es gibt 65% Menschen, die bedienen Maschinen.
Bildungs- und sozialpolitisch gibt es zwei wichtige Aussagen:
1. Weil Ehen, wo Mann und Frau zu den Hochbegabten zählen, nur ein sehr kleiner Teil aller Ehen sind, entstammen die meisten Hochbegabten aus Ehen der Mittelschicht bzw. aus Schichten, zu denen rund zwei Drittel der Bevölkerung nicht gehören.
2. Der soziale Auf- und Abstieg von einem Extrem zum anderen braucht mindestens zwei Generationen.