Was das Sicherheitsrisiko angeht: Wie neulich schon mal geschrieben, sind westliche Reaktoren extrem sicher. Das liegt daran, dass hier das Kühlwasser gleichzeitig Moderator ist. Ein Katastrophe Tschernobyl wäre in so einem Reaktor niemals geschehen.
Dazu kommen ganze Listen von Sicherheitssystemen, ein moderner Reaktor kann innerhalb von Sekunden auf 10% heruntergefahren werden und erzeugt immer genug Strom um sich selbst steuern zu können.
Eine Gefahr sind natürlich die ganzen Russenkisten, die sollte man in der Tat schleunigst vom Netz nehmen. Es sind immer noch eine ganze Reihe von MKER und RBMK Reaktoren in Betrieb, letztere wurden in Teschernobyl eingesetzt (das auch nach der Katastrophe noch bis 2000 weiterlief)
Das Thema ist zwar schon eine Weile her, aber gerade bezgl. des RBMK gilt es hier einige Resantiments aufzuheben, die u.a. erfogreich von "Institutionen" wie dem "Informationskreis Kernergie" gepflegt werden. Es ist natürlich leichter, die Anlagen im eigenen Land in ein gutes Licht zu rücken, wenn u.a. im Osten alles viel schlechter ist. Tatsächlich ist oft genug das Gegenteil der Fall, bzw. die S/W Malerei absolut unangebracht. Das gilt auch für den RBMK.
Gerade das mit dem positivem Void-Koeffizienten ist der Quell vieler Verwirrung. Der wird gerne instrumentalisiert (und war, ich werde es noch ausführen, bereits damals nicht immer positiv!). Das Posting ist zum größten Teil c&p aus einem früheren Beitrag von mir auf p3dnow zum exakt gleichen Themenkomplex. Da es jetzt ziemlich abseits des aktuellen Disukssionsfadens ist, kann es ein Mod vielleicht irgendwie verschieben - ansonsten bitte ich um Entschuldigung, aber es "brennt" mir an der Stelle unter den Nägeln:
Man kommt an der Stelle generell nicht weiter, wenn man nicht den Betriebszustand* und Auslegung der Anlage betrachtet. Vor allem darf man nicht den Fehler machen und "RBMK pre 1986" mit "RBMK post 1986" vergleichen. Irrsinnigerweise waren alle konzeptionellen Änderungen, die die Havarie verhindert hätten, schon einige Zeit vor eben Dieser bekannt. Schließlich gab es genügend Vorgängerereignisse, sprich Reaktivitätsstörfälle. Wahr ist: Im unteren Leistungsbereich neigen die RBMKs -und hier meine ich speziell in der Konfiguration vor 1986- zu sehr unangenehmen Verhalten.
Der in Tschernobyl eingesetzte Zweitgeneration-RBMK war nun also im damaligen Betriebsregime (ungünstig hoher Abbrand, da noch Erstbeladungskern der Inbetriebnahme 1983 (entsprechend waren fast alle fixen Absorber inzwischen entfernt**), unterschrittene Reaktivitätsreserve, fortschreitende Xenon-Vergifung bei niedrigem Leistungsniveau, deutlich zu großer Kühlmitteldurchsatz (gemäß Dyatlov nicht ursächlich), ungünstige Leistungsdichteverteilung und fatale Konstruktion des Steuerstabsystems), besonders kurz vor der Havarie, mit einem Void-Effekt von 5 Beta natürlich ein wahres Pulverfaß, keine Frage. Gerne würde ich weiter ins Detail gehen, aber das würde den Rahmen hier wohl sprengen.
Interessant wäre sicherlich auch die Einschätzung von Anatoly Dyatlov (ehemaliger Chefingenieur, anwesend beim damaligen Test, der zur Havarie führte), der 1991 ein sehr interessantes Interview gegeben hat und zu einer etwas abweichenden Bewertung (z.B. verglichen mit der IAEO) kommt - es würde aber den Rahmen sprengen, wenn das auch noch aufgeführt wird.
Nach der Havarie wurden sehr schnell entsprechende Gegenmaßnahmen in *allen* RBMK Anlagen durchgeführt, die nicht nur den Reaktor, sondern auch die Betriebsvorschriften betrafen***. Für die Erstgeneration-RBMKs kamen zusätzlich große Modifkationen im Notkühlsystem hinzu (welches de facto hier gar nicht existierte, sondern über das Notspeisewassersystem realisiert war). Hinzu kamen für diese Generation partielle Sicherheitseinschlüsse mit Naßkondensator. Die Liste der Nachrüstungen und Veränderungen ist lang, ich will es aber an der Stelle dabei belassen, führe aber bei Bedarf das gerne im Detail aus. Auch die Betriebsvorschriften sind, wie gesagt, betroffen,
Diese Nachrüstungen haben die Situation *erheblich* entschärft. Der Void-Effekt ist heute im Betrieb unter bestimmten Umständen negativ (das war er übrigens auch schon vor den Nachrüstungen bei Erstbeladungskern mit installierten, festen Absorbern, d.h. der generell festgestellte positive Voideffekt war nie gegeben) bis höchstens leicht postiv, und verändert sich vor allem mit zunehmendem Abbrand nicht mehr wesentlich nach oben. Durch die Modifikationen kann die Reaktivitätszufuhr in jedem Fall abgefangen werden.
"Schon kurz nach dem Unfall wurden konstruktive Maßnahmen ergriffen, um den positiven Voideffekt zu reduzieren, [...]. Die Tabelle zeigt, daß der positive Voideffekt inzwischen bei den meisten Anlagen im Bereich von (0,8 ± 0,2) Beta liegt. Die Größe des Voideffektes wird im Reaktorbetrieb regelmäßig alle 200 Betriebstage ermittelt und überprüft" [Der Unfall und die Sicherheit der RBMK-Anlagen, GRS 1996]
"The reduction of the positive steam reactivity coefficient at the Ignalina NPP, from +4.5b to +1b,[...]" [Ignalina Source-Book]
Und genau da komme ich zum Kern der Sache. Die heutigen RBMKs sind durchaus mit unseren KKWs vergleichbar. Sie haben in Teilbereichen sogar Vorteile, vor allem durch die extrem niedrige Leistungsdichte, was bei Problemen bezgl. der Kernkühlung sehr hilfreich ist und ein deutlich größeres Zeitfenster ermöglicht.
"Safety Analysis for Nuclear Power Plants of VVER and RBMK Types" (8. April 2002 Kiev)
The most likely initiating event, which probably leads to the loss of long term cooling accident, is station blackout. The analysis of the station blackout was performed using the RELAP5/MOD3.2 model of Ignalina NPP reactor (Anmerkung: Ein RBMK Typ, 2. Generation) primary circuit and plant safety systems. The results of analysis showed that approximately half an hour after beginning of the accident, Drum Separators (DS) become empty. One hour later, the dry-out in the core starts. It causes the heating-up of fuel elements and Fuel Channels (FC) tubes. Acceptance criterion for FC tube walls will be reached approximately 2.5 hours after beginning of the accident. Since the pressure in the MCC is close to the nominal value, the possibility several fuel channels rupture is not excluded. However, these results also showed that there is a considerable time interval for the operator's actions directed forwards the restoration of the core cooling.
Gerne wird auch insistiert, man hätte die unangenehmen Eigenschaften (die allerdings, wie gesagt, erst im Betrieb zu Tage traten und inzwischen zu großen Teilen beseitigt sind) des RBMK akzeptiert, um eine Quelle für waffenfähiges Plutonium zu haben. In Zeiten des kalten Krieges mag diese Eigenschaft (die durch das Online-Refueling möglich wird) in der Theorie wichtig gewesen sein (ich bezweifel aber extrem stark, dass die zur Stromerzeugung eingesetzten RBMKs hier eine signifikante Quelle waren, tatsächlich wurde wohl eher der maximal mögliche Abbrand genutzt). Aber schon damals waren es auch andere Eigenschaften, die zu diesem Typ führten. Der RBMK erlaubt eine sehr einfache Steigerung der elekrischen Leistung. Im Grunde genommen muß man nur die aktive Zone vergrößern. Die Übertragung von den beiden Großversuchen in Belojarsk (100/200 MW) war entsprechend einfach. Es gibt keinen geschlossenen Druckbehälter. Ignalina sollte mit 1500MW elektrisch nur der erste Schritt gewesen sein. Anlagen >2000MW pro Block waren bereits spruchreif. Auch die "Gutmütigkeit" bei den von mir genannten Szenarien spielte eine Rolle, auch wenn pikanterweise ein entsprechender Sicherheitstest die Havarie auslöste.
Nachteilig ist natürlich die komplexe Instrumentierung (wer sich die
Reaktorseite der Blockwarte eines RBMK mal ansieht, weiß, was ich meine), wobei steuerungstechnisch mit der zweiten Generation bzw./ und Nachrüstungen Verbesserungen eingebracht wurden. Die
große Anzahl technologischer Kanäle birgt naturgemäß mehr Fehlerquellen und erfordert eine erhöhte Aufmerksamkeit. Weitere teilweise durchaus vorhandene Mängel haben nichts mit dem Reaktortyp selbst zu tun und betreffen natürlich auch nicht nur Anlagen in Osteuropa/ Rußland. Allerdings wird auch hier nachgerüstet (z.B. im Zuge der Laufzeitverlängerungen;
hier z.B. mal eine modernisierte RBMK Blockwarte).
In Sachen Sicherheit bleibt festzuhalten, dass es gerade in Rußland einige ambitionierte Konzepte (zu denen ich z.B. den EPR für Westeuropa nicht zähle) mit niedriger Leistungsdichte und passiver Sicherheit gibt, die nach meinem aktuellen Stand allerdings derzeit hinter dem Hauptstandbein neuer Ausbauplanungen, basierend auf evolutionären WWER 1000 Derivaten, zurückstehen. Allerdings ist dort, sowieso viel im Fluß. Interessant dürfte auch der MKER als RBMK Nachfolger werden, wobei er derzeit wohl nicht mehr Teil der Programms (in Sicherheitsaspekten zu Unrecht) ist. Bezgl. Rußland und Osteuropa muß man in Sachen Ausbau allerdings auch immer beachten, dass zwischen Planung und Realisierung ein großer Unterschied besteht, dort sind ja immer noch zahlreiche Baustellen bestehender Typen eingemottet, auch wenn im Zuge eines "Übergangsprogramms" bis zur Realisierung besagter, evolutionärer Konzepte, vermehrt Arbeiten vorangetrieben werden. Als Paradebeispiel nenne ich an der Stelle immer Kursk 5.
Abschließend will als "konkurenzfähiges Design" aus Osteuropa, noch den WWER 440/213**** anführen (in einem Fall auch nach Westeuropa exportiert), der trotz seiner weit zurückliegenden Projektierung keinefalls den sicherheitstechnischen Vergleich auch mit unseren letzten Konvoi-Anlagen scheuen muß und in Teilbereichen wiederum handfeste Vorteile bietet. Das fehlende Volldruckcontainment ist im Havariefall ein geringerer Nachteil, als gerne insistiert (in Tschernobyl hätte ein Solches nichts verhindert, wobei das auch bei "konventionellen" SWRs eher die Ausnahme ist).
Als Quintessenz sollte man daher nicht allzu abschätzig Richtung Osteuropa/ Rußland schauen. Kritik ist grundsätzlich angebracht, aber die muß auch ins eigene Land gehen. Es ist nicht nachvollziehbar, Laufzeiten unserer Anlagen verlängern zu wollen (wovon ich persönlich kein Freund bin - ein Neubau von Anlagen ist, bereits durch die Novellierungen des Atomgesetzes unter der Regierung Kohl, das schließt insbesondere auch den "neuen" EPR ein, extrem schwierig) und z.B. Rechanelling-Maßnahmen von RBMKs zu bemängeln, die dadurch über ihre projektierte Laufzeit betrieben werden. Gleiches gilt z.B. für den Aufruhr um Temelin. Wer A sagt, muß hier auch B sagen.
Es sind immer noch eine ganze Reihe von MKER und RBMK Reaktoren in Betrieb
Es sind derzeit nur RBMK Reaktoren in Betrieb. Einen "echten" MKER gibt es nicht. Auch Kursk-5 würde noch zu den RBMKs zählen, wenngleich hier sicherlich viel von dessen Evolutionen hineinfließen wird (gleiches gilt für die diversen, schon angesprochenen Nachrüstungen, die nicht nur der Beseitigung der "Stanard-Defizite" dienten - gutes Beispiel sind die Maßnahmen in St. Peterburg).
Gruß
Denis
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"[...] The thermal-hydraulic operating conditions of the core were characterized by a low level of subcooling of the coolant below the boiling temperature (3°C) and a correspondingly low steam quality, which was observed only in the upper part of the core. Under these circumstances, in view of the low level of subcooling of the coolant below the boiling temperature, a small power increase (for whatever reason) could result in a much higher increase in the volumetric steam quality in the lower part of the core than in the upper part [...]." [INSAG-7, The Chernobyl Accident]
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"Am 25. April 1986, in dem Moment in dem der Reaktor zur Großinstandhaltung abgefahren werden sollte, enthielt die aktive Zone 1659 Brennelemente (etwa 200 Tonnen Urandioxid), einen zusätzlichen Absorber und einen leeren technologischen Kanal. Der größte Teil der Brennelemente (75 Prozent) bestand noch aus Elementen der ersten Beladung, mit einem Abbrand, der dem maximal zulässigen Wert sehr nahekam. Das bedeutet, daß auch die Menge der langlebigen radioaktiven Nuklide in der aktiven Zone maixmal war[...]" [G. Medwedew: Vebrannte Seelen - die Katastrophe von Tschernobyl]
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"[...] Firstly, Section 8.9.1 (a) of the Operating Procedures refers to reactivity as one of the important operating parameters which have to be controlled at all power levels. The ORM is not included in the list of important parameters. Secondly, there was no provision in the design of the RBMK reactor for a device to measure the ORM in terms of effective manual control rods. The operator either had to determine the depth of insertion of rods in the intermediate position from the measuring instruments (aufwändig, siehe
hier), correct for the non-linearity of the graduation scale and sum up the results, or instruct the plant computer to make the calculation and wait a few minutes for the result. In both cases, it seems unreasonable to expect the personnel to treat this parameter as a directly controllable one, particularly since the accuracy with which it can be determined depends on the power density field profile. Thirdly, the Operating Procedures did not draw the attention of the personnel to the importance of the ORM as an essential parameter for ensuring the effectiveness of the emergency protection system [...]." [INSAG-7, The Chernobyl Accident]
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"The VVER-440 reactors are PWRs of the 1st (model V 230) and 2nd (model V 213) generation designed in former Soviet Union, which differ from typical PWRs of western concept. Typical feature of this concept is six-loop arrangement and horizontal steam generators. One notable feature of VVER-440 reactors is low core power and large secondary side water inventory, which tends to slow down the progression of the transients and accidents. Although these reactors were designed long time ago and have certain deficiencies, it is in principle possible to update and upgrade the VVER-440/V213 design in accordance with the requirements which are typical for the design of
advanced (Anmerkung: Auch unsere Konvoi-KKWs fallen nicht in diese Kategorie) PWRs. [...]" [Natural circulation and use of passive heat removal principles in VVER-440/V213 reactors]