Vor 20 Jahren hatte auch noch kein Kind ADHs bzw. gabs das da sicherlich auch schon aber selten. Heute hats doch gefühlt jedes 3te Kind.
ADHS gab es schon immer, genauso wie viele andere Dinge für die man einfach sehr, sehr lange keine Bezeichnung hatte weil die Symptomatik entweder einer anderen Ursache zugeschrieben wurde oder eine Diagnose erst gar nicht möglich war (mangels Fachwissen). Erstmals erschien ADHS (bzw. die Beschreibung des Verhaltensbildes/symptomatik) in der Literatur gegen Ende des
18. Jahrhunderts und ist seit dem bewusst (mehr oder weniger erfolgreich) behandelt worden.
Der Grund warum der Eindruck entsteht früher hätte es das so gut wie nicht gegeben, hat verschiedene Ursachen. Das gilt für so ziemlich jede Erkrankung, besonders im psychischen Bereich. Zum einen war die Medizin lange Zeit nicht wirklich an Ursachenbekämpfung interessiert, sondern man hat primär nur Symptome behandelt. Zum anderen hatten viele Menschen mehrheitlich bis vor wenigen Jahrzehnten nicht das nötige Kapital, teilweise auch geographisch nicht wirklich Zugang, um sich behandeln zu lassen. Hinzu kommt, dass grade psychische Erkrankungen (oder alles was damit irgendwie zusammenhängt, somit auch Verhaltensweisen, etc) verpönt waren - gleichzeitig auch jedem der nur Ansatzweise irgendwie bestimmte Symptome hatte sofort der Schädel aufgeschnitten wurde, was man gern vermieden hat wenn man nicht unbedingt jmd loswerden wollte.
Das sind allein schon mal vier große Faktoren warum nicht so viele Fälle dokumentiert wurden - die Dunkelziffer kann man somit nur abschätzen. Ganz zu schweigen von den falsch interpretierten Symptomen durch Ärzte mit mangelndem Fachwissen oder Equipment, welches ja auch erst in den letzten Jahrzehnten tatsächlich bessere Diagnosen ermöglicht hat. Somit macht es überhaupt gar keinen Sinn heute mit früher zu vergleichen.
Dann ist es so, dass sich das Leben verändert hat. Wir konsumieren völlig anders auf diversen Ebenen, wir haben einen ganz anderen Zugang zu Technologie/Information, usw. was wiederum neue Effekte verursacht die wir so noch gar nicht kennen und somit deren Einfluss noch nicht wirklich abschätzen können. Was definitiv einleuchtet ist der Umstand, dass die Lebensweise mit dem riesigen Bereich "soziales Umfeld" verknüpft ist und damit auch mit der Gesellschaft und all das wiederum mit der Psyche eines Individuums. Unsere Lebensweise heute ist nicht mehr mit vor 10 Jahren zu vergleichen, geschweige denn mit vor 50-100 Jahren. Somit ist jeder Vergleich im Sinne von "früher war das aber nicht so" vollkommen albern,
weil früher das Leben teilweise komplett anders war.
Damit wäre dann das Thema "verzerrte Wahrnehmung" abgehakt.
Was aber viel wichtiger ist:
ADHS ist ein weites Feld. Der Begriff fasst eine Bandbreite an Symptomen zusammen, ist oft mit anderen "Störungen" verknüpft und die "einfachere Antwort" wenn es darum geht zu erklären was das Kind für ein Problem hat.
Wer sich die Mühe macht sich ernsthafter mit der Thematik auseinanderzusetzen wird auch feststellen, dass es neben Umweltfaktoren und Genetik auch noch die "gesellschaftlich induzierte" Komponente gibt. Diese besagt ganz grob dass ADHS vor allem deswegen heute gehäufter auftritt, weil unsere Gesellschaft das Verhalten junger Menschen heute anders einordnet. Was "normal" und "abnormal" ist wird heute völlig anders bewertet als früher. In einer Gesellschaft in der die klassische ADHS Symptomatik als "normal" empfunden werden würde, gäbe es gar kein ADHS Diagnose weil dieses Verhalten eben völlig normal wäre und nicht "abnormal". Es hat also auch damit zu tun, wie die Gesellschaft ein bestimmtes Verhalten be/verurteilt und wie die Medizin dies dann klassifiziert, d.h. am Ende ist es eine mehr oder weniger bewusste Entscheidung eine psychische (oder anderweitig verankerte) Störung zu diagnostizieren und diese dann entsprechend zu behandeln.
Was im Umkehrschluss aber
nicht bedeutet dass ADHS frei erfunden ist und eigentlich gar nicht behandelt werden muss! Es bedeutet lediglich, dass die Gesellschaft eine bestimmte Symptomatik (un)bewusst ignorieren kann, je nachdem wie sie diese interpretiert bzw. wie sehr die Symptomatik mit den Erwartungshaltungen innerhalb der Gesellschaft kollidiert.